Mein Name ist Benja Zehr und das ist meine Bachelor-Arbeit. Ich habe Multimedia Productions an der HTW Chur studiert und werde jetzt in den Journalismus einsteigen.

Diese multimediale Reportage ist im Laufe der letzten sechs Monate enstanden (erste Hälfte 2014). Sie ist der Praxisteil zu meiner Bachelorarbeit über die multimediale Aufbereitung von journalistischen Inhalten. Alles was ihr seht, habe ich selbstständig recherchiert und aufbereitet.

Weitere Arbeiten von mir und alle Kontaktangaben findet ihr auf meinem Portfolio.

Foto von Tine Edel

 
 

Uf de Gass

Ein Stück Lebensschule
Von Benja Zehr (2014)

 

Während eines halben Jahres war ich auf den Strassen der Stadt St.Gallen unterwegs. Dabei habe ich mit Menschen mit Suchtproblemen geredet, mit Sozialarbeitern, Polizisten, Ärzten und vielen mehr. Der Begriff der «Gasse» stammt nicht von mir, sondern direkt aus dem Leben der Betroffenen. Er bedeutet für sie Identifikation, Zusammengehörigkeit – fast schon so etwas wie Familie.

Aber schön der Reihe nach. Schauen wir uns den Alltag der Menschen auf der Gasse etwas genauer an.

 

Drogen

Wer das Thema Drogen mit dem Gassenleben gleichsetzt, wird diesem nicht gerecht. Aber: «Fast alle, die hier ein und aus gehen haben irgendein Suchtproblem», sagt Dirk Rohweder, Leiter der Gassenküche über sein sogenanntes Klientel. Nicht alle Menschen auf der Gasse gehen regelmässig in die Gassenküche. Trotzdem scheinen diese Zahlen ziemlich repräsentativ für die ganze Gruppe.

Durchschnittliche Besucherzahlen: Gassenküche am Mittag

Die Statistik sagt: Von den durchschnittlich 20 Personen, die 2013 zur Mittagszeit in der Gassenküche waren, haben 15 ein Drogenproblem und vier ein Alkoholproblem. Doch diese Einteilung ist etwas irreführend, denn heute gilt: Ein Grossteil der Süchtigen ist polytoxikoman – konsumiert also mehrere Substanzen parallel.

Substanzen

«Wotsch es Methi?» oder «Sugar, z’verchaufe! Wer suecht Sugar?» zu hören, ist nichts Ungewöhnliches, wenn man sich länger an den Orten aufhält, wo auch Süchtige ein und aus gehen. Heroin und Methadon, Benzodiazepine und Cannabis sind die am häufigsten konsumierten Substanzen. Kokain und andere Aufputschmittel sind ebenfalls beliebt, aber im Vergleich sehr viel teurer und deshalb seltener. Über Cannabis wissen die meisten recht gut Bescheid. Die anderen Substanzen schauen wir etwas genauer an.

He­ro­in Me­tha­don Ben­zo­dia­ze­pi­ne Ko­ka­in
An­de­re Namen H, Sugar, Dreck, Gift Methi Ben­zos, Dormi, Dor­mi­cum, Blaue, Se­res­ta, Xanax, Te­mes­ta, Ri­vo­tril, Va­li­um,… Schnee, Koks, Cola
Kon­sum­form Meist in­tra­ve­nös, kann aber auch ge­schnupft oder mit Fo­li­en ge­raucht wer­den In Ta­blet­ten­form oder flüs­sig zum oral ein­neh­men. Kann auch ge­spritzt wer­den. Die Ta­blet­ten wer­den in der Regel zer­mahlt und ge­schnupft. Oder dann oral ein­ge­nom­men. Wird (gerne mit He­ro­in ver­mischt) ge­spritzt oder ge­raucht, aber auch ge­schnupft
Prei­se 0.2g-Brief­chen für 20.- 10 Ta­blet­ten für 20.- z.B. 5 Va­li­um für 10.- 1 Kü­ge­li (Menge un­ter­schied­lich) à 30.- ist am ver­brei­tets­ten
Rein­heit 5-7% (Rest: Streck­mit­tel, z.B. Make Up) 100% 100% 15-18% (Rest: Streck­mit­tel, u.a. Rat­ten­gift oder bil­li­ge­res Crys­tal Meth)
Dauer 6-12 Stun­den 24-36 Stun­den Je nach Sub­stanz. Eine Dor­mi­cum hält ca. 6h an, eine Ta­blet­te Va­li­um ca. 24h Nur 1-4 Stun­den je nach Kon­sum­form
Dosis Stark Süch­ti­ge set­zen sich bis zu 5 Schüs­se pro Tag. Je nach­dem auch mehr als ein Brief­chen pro Kon­sum. 70mg sind eine üb­li­che Dosis. Mehr als 100mg be­kommt man in der Ab­ga­be ei­gent­lich nicht (nicht alle Ärzte sind hier gleich strikt). Eine Ta­blet­te pro Kon­sum. Diese be­inhal­tet un­ter­schied­li­che Men­gen des Wirk­stoffs. Für einen Schuss reicht ein Kü­ge­li (grob ge­schätzt ca. 0,2g)
Wir­kung Stark be­ru­hi­gend, schmerz­stil­lend, angst­lö­send aber auch leicht eu­pho­ri­sie­rend Ähn­lich wie He­ro­in, aber «sanf­ter» weil lang­sa­mer und ohne «Kick» am An­fang Star­ke Be­nom­men­heit – be­ru­hi­gend (da als Schlaf­me­di­ka­ment ge­dacht) und angst­lö­send Auf­put­schend und eu­pho­ri­sie­rend, stei­gert das Selbst­be­wusst­sein
Ne­ben­wir­kungen Rie­si­ge Sucht­ge­fahr ab dem ers­ten Kon­sum. Ver­lang­sam­te At­mung, ver­lang­sam­ter Herz­schlag und star­ke Be­las­tung durch Streck­mit­tel oder un­hy­gie­ni­schen Kon­sum Bei ora­lem Kon­sum star­ke Be­las­tun­gen für den Magen (sehr bit­ter), At­mung und Herz­schlag wer­den schwach Star­ke Mü­dig­keit, ver­rin­ger­tes Auf­nah­me- und Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen Rie­si­ge Sucht­ge­fahr ab dem ers­ten Kon­sum. Gros­se Stress­be­las­tung für den Kör­per und alle Or­ga­ne und Be­las­tung durch Streck­mit­tel oder un­hy­gie­ni­schen Kon­sum

Sucht ist nicht gleich Abhängigkeit

«Wer ein Mal Heroin konsumiert, kommt nie mehr davon los.» Das klingt krass und es geht nicht allen gleich, aber so erzählen es jene, die aus eigener Erfahrung sprechen. Es ist nicht die körperliche Abhängigkeit – nicht der Körper kommt nicht mehr ohne die Substanz aus. Dieser braucht nämlich selbst nach regelmässigem Konsum maximal vier Tage (Entzug), um wieder ohne Heroin auszukommen.

Nein, es ist der Kopf, der sich auch nach Jahren noch an das Gefühl erinnert, welches das Heroin in ihm ausgelöst hat. «Sucht» ist vor allem eine psychische Abhängigkeit. Thomas Feurer, selbst ehemaliger Junkie und heute selbständiger Gassenarbeiter, beschreibt es so:

Kriminalität

Das nationale Betäubungsmittelgesetz (BetmG) regelt den Umgang mit Substanzen und Medikamenten. Es ist ganz spannend, sich anzusehen wie viele Delikte mit welcher Substanz registriert wurden in den vergangenen 20 Jahren. Natürlich ist zu bedenken, dass diese Zahlen die Gesamtbevölkerung repräsentieren – nicht nur die Personen auf der Gasse:

Anzahl Verstösse gegen das BetmG unterteilt nach Substanzen

Eindrücklich zu sehen ist, dass einerseits Straftaten mit Opiaten (rot) deutlich zurückgegangen sind, was vermutlich auf die diversen Programme und Angebote, die in dieser ganzen Arbeit thematisiert werden zurückzuführen ist. Andererseits ist die Zahl an Verstössen gegen das BetmG mittels Hanf-Drogen (gelb) kontinuierlich gewachsen. Benzodiazepine tauchen in der Statistik gar nicht auf, obwohl sie heute sehr verbreitet sind. Vielleicht müssen wir auf die Zahlen nach 2008 warten.

Die Beschaffungskriminalität (viel Diebstahl oder Betrügereien) fällt in der Regel unters Strafgesetzbuch (StGB). Hier ist eine Aufschlüsselung und somit auch eine Analyse nicht so einfach möglich.

Um zu verhindern, dass Süchtige beim Beschaffen ihres Stoffs kriminell werden müssen, wurden die Substitutionsprogramme mit Methadon und die Heroinabgabe ins Leben gerufen. Das Zürcher Institut für Suchtforschung belegte in einer Studie, dass dies tatsächlich zu einem Rückgang der Beschaffungskriminalität geführt hat.

In St.Gallen ist die MSH1 für die Heroinabgabe und die MSH2 für die Methadonbehandlung zuständig.

Beschaffungsstress

Während Heroin zu den beruhigenden Drogen zählt, ist zum Beispiel das Kokain stark stimulierend.

Was Konsumenten beider Substanzen gemeinsam haben, ist die Angst vor dem Entzug. Und diese ist so stark, dass ein nicht süchtiger Mensch sie sich kaum vorstellen kann. Wie ein Damoklesschwert hängt sie über dem Süchtigen und treibt ihn an.

Anonymer Süchtiger [2min 8s]
«Wie fühlt es sich an, wenn der Heroinentzug einsetzt?»

«Junkie» sein, sagt man, ist ein 24-Stunden-Job. Mit dem Entzug im Nacken rennen Suchtkranke ständige dem nächsten Schuss nach. Dazu kommt: Eine Sucht ist enorm teuerSozialhilfe oder Rente reichen nicht aus, um die 100 bis 200.- Fr. zu decken, die eine Sucht schnell mal pro Tag kosten kann.

Geld besorgen, Stoff besorgen, konsumieren, nicht erwischen lassen und alles wieder von vorne.

Wie man auf der Gasse Geld verdient, dazu später mehr. Hat ein Süchtiger 20.- Franken zusammen, kauft er sich bei einem Kleindealer ein «Briefli», ein «Kügeli», eine Blaue oder sonst eine Portion Stoff.

Von da an zählt jede Minute: Je länger man mit dem Stoff unterwegs ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Also heisst es: So schnell wie möglich konsumieren. Gesnifft wird, wo man halt grad ist. Gespritzt wird meist auf öffentlichen Toiletten oder einer nahe liegenden Ecke, in der man einigermassen ungestört ist.

 

Diese Treppe ist ein beliebter Konsumort in der Szene. Sie befindet sich in der Nähe der ehemaligen Spritzenabgabe auf privatem Gelände. Die Süchtigen werden toleriert und nicht gestört.

 
 

Dabei wird dann auch gern mal das Konsummaterial (Folien, Filter, seltener auch Spritzen) liegen gelassen. Was auch Spuren hinterlässt: Wer intravenös konsumiert, hat oft Schwierigkeiten, die Venen zu treffen. Oft blutet es stark. Wer stattdessen eine vom Herz weg führende Arterie trifft, kann innert kürzester Zeit enorm viel Blut verlieren.

 

Die Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit kontrolliert mehrmals wöchentlich die häufigsten Konsumorte und beseitigt die gröbsten Spuren.

 

Hygiene & Gesundheit

Das Problem ist nicht der Wirkstoff, sondern unhygienische Bedingungen beim Konsum und vor allem die Streckmittel, die der Droge beigemischt sind. Sie verstopfen die Blutbahnen, lassen sie verhärten und absterben. Eine neue Vene muss her.

Bis irgendwann alle leicht zugänglichen Venen verstopft sind und der Süchtige eine halbe Stunde lang den ganzen Körper durchsticht auf der Suche nach einer noch intakten.

Beliebte Einstichorte sind Arme und Beine. Wenn’s dort nicht mehr klappt, müssen Hände und Füsse herhalten. Wenn auch das nicht mehr geht, wird es gefährlich. Mit sehr langen Nadeln versuchen die Süchtigen, die grossen Blutbahnen am Hals oder bei den Leisten zu treffen. Die Risiken für langfristige Schäden sind nicht zu unterschätzen.

Hinzu kommt, dass im Stress viele nicht genügend auf hygienische Bedingungen achten (können). Infektionen sind die Folge. An dieser Stelle muss aber eines gesagt werden: Der Gesundheitszustand von Süchtigen hat sich in den letzten 20 Jahren um Welten verbessert.

Die verhältnismässig einfache, aber wirksamste Massnahme im Kampf gegen Krankheiten: Sauberes Spritzenmaterial.

 

Es gibt zwei Wege, um an sauberes Material ranzukommen: Es gibt einerseits Safebox-Automaten, an denen eine Box drei Franken kostet und es gibt eine Abgabestelle der Stiftung Suchthilfe, genannt Blauer Engel, wo zu Büroöffnungszeiten Spritzen im Tausch gratis erhältlich sind oder für 20 Rappen gekauft werden können. Sauberes Zubehör gibt’s gratis dazu.

Der Safebox-Automat ist teurer, weil man den Leuten gerne persönlich die Utensilien überreicht, ihnen Tipps mit auf den Weg geben und ihren Gesundheitszustand überprüfen kann.

 

Die Zahl abgegebener Spritzen hat seit Beginn des Projekts 1993 konstant abgenommen. Wird weniger konsumiert oder werden die Spritzen wieder mehrfach verwendet? Jürg Niggli, Geschäftsführer der Stiftung Suchthilfe gibt zu: Ganz sicher sein kann man sich nie. «Hinweise, dass das Angebot aus irgendwelchen Gründen nicht (mehr) akzeptiert wird, haben wir aber keine.»

Abgegebene Spritzen in der Stadt St.Gallen

1993 wurden täglich rund 2'000 Spritzen abgegeben. Was in der Statistik wie ein Fehler aussieht, lässt sich mit der grossen Sogwirkung der offenen Drogenszene am Schellenacker erklären. Von weit her kamen Süchtige nach St.Gallen.

Man sagt, wer seit damals auf der Gasse ist, konnte es kaum vermeiden, sich mit HIV und Hepatitis anzustecken. Die Zeiten, in denen Spritzen im Kreis herumgereicht wurden sind zwar vorbei, aber:

Was ebenfalls bis heute ein Problem ist: «Das Ernährungsverhalten von Menschen mit einer Suchtproblematik ist sehr schlecht», erklärt Jack Walker von der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit. «Heroin verdrängt das Hungergefühl.»

Ein Süchtiger gibt immer der Droge den Vorzug, wenn das Geld knapp wird.

«Wir versuchen das zu entschärfen, indem wir kein Geld abgeben sondern Migros- oder Gassenküche-Gutscheine.»

Nur sehr wenige Süchtige können kochen oder haben überhaupt eine funktionstüchtige Küche zur Verfügung. Ausserdem verstärken Opiate die Lust auf Süsses. «In der Gassenküche versuchen wir den Klienten zu vermitteln, wie wichtig es für ihre Gesundheit ist, eine vollwertige Mahlzeit pro Tag einzunehmen. Bei uns können sie das für drei Franken tun.», ergänzt Dirk Rohweder, Leiter der Gassenküche.

Institutionen wie die Heilsarmee und die Schweizer Tafel verteilen an Bedürftige ausserdem wöchentlich Lebensmittel, die sie von Grossverteilern oder lokalen Bäckereien wie dem Vögelibeck, dem Schwyter oder dem Spar bekommen. Im Katharinenhof gibts jeden Morgen die Reste von der Bäckerei Gschwend.

All diese Faktoren haben dazu geführt, dass die Lebenserwartung von Süchtigen enorm gestiegen ist. Dementsprechend abgenommen haben Todesfälle durch Drogen.

Drogentote in der Schweiz

Geschichte

Ende der 80er-Jahre trat das Drogenelend am offensichtlichsten zutage. Drogen zu konsumieren hatte etwas Subversives, Rebellisches und im Zuge der Jugendunruhen entstanden in allen grösseren Städten offene Drogenszenen. Die Politik antwortete in erster Linie mit Repression, doch so war das Problem nicht in den Griff zu kriegen.

Regina Kühne fotografierte 1993 im Auftrag der Stiftung Suchthilfe den Schellenacker und dessen Räumung. Diese bisher unveröffentlichten Fotos erinnern an einen sozialen Brennpunkt, den man schon damals verdrängte und auch kaum fotografisch festhielt.

1990 wurde die Stiftung «Hilfe für Drogenabhängige» (heute: Stiftung Suchthilfe) gegründet und startete erste Versuche in der Schadensminderung. Im selben Jahr baute man in einigen Containern das Bienenhüsli auf. Neben einer ersten Spritzenabgabe war darin auch ein Vorläufer der Gassenküche untergebracht und in einem der Container war es erlaubt, zu konsumieren. Mangelnde Erfahrung, aber auch die viel zu knappen Ressourcen führten dazu, dass ein quasi rechtsfreier Raum mit all seinen Begleiterscheinungen entstand: Gewalt, organisiertes Verbrechen, Drogenhandel, aber auch sehr unhygienische Zustände.

Jürg Niggli [0:40s]
«Warum war das Bienenhüsli damals kein Erfolg?»

Die Politik zog die Notbremse und löste das Bienehüsli auf. Es folgte eine Zeit, in der sich die Szene von Ort zu Ort verlagerte oder sich in private Räume zurückzog. Bis sich irgendwann der Schellenacker bildete. Die zweite grosse offene Drogenszene in St.Gallen. Alle Betroffenen sind sich einig: Es war eine schlimme Zeit.

Am 2. November 1993 wurde auch der Schellenacker aufgelöst und die Szene verschwand wieder in weniger sichtbare Bereiche. Im Jahresbericht von damals beklagt die Stiftung Suchthilfe diesen Umstand, der ihre Arbeit bedeutend erschwerte:

Auszug aus dem Jahresbericht des Geschäftsleiters der Stiftung Suchthilfe aus dem Jahr 1994

Meilensteine

Wirft man einen Blick auf den Sorgenbarometer, so kann man die Drogenpolitik der letzten 20 Jahre als Erfolg bezeichnen. Der Anteil Leute, die Drogen als ein wichtiges Problem der Gesellschaft beurteilen, hat im Vergleich zu damals extrem abgenommen:

Sorgenbarometer Schweiz: Drogen ein «wichtiges Problem»

Was hat sich da verändert? Werfen wir einen Blick auf die gesetzlichen Veränderungen und wichtigen Ereignisse dieser Zeit:

Start Methadon-Abgabe

1975 wurde in der Schweiz die gesetzliche Grundlage zur Behandlung opiatabhängiger Personen mit dem Substitutionsmittel Methadon eingeführt.

1975

Bienenhüsli

1990 wurde die Stiftung «Hilfe für Drogenabhängige» (seit 1998: Stiftung Suchthilfe) gegründet und startete erste Schadensverminderungsversuche im «Bienenhüsli» mit sauberen Spritzen, einem Konsumraum und warmem Essen.
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1990

4-Säulen-Prinzip

1991 wurde das bis heute gültige 4-Säulen-Prinzip der Drogenpolitik entwickelt: Prävention, Therapie, Schadensverminderung und Repression.

1991

Stiftung «Hilfe für Drogenabhängige»

1993 startet in St.Gallen die Stiftung «Hilfe für Drogenabhängige» erstmals mit der Abgabe von Methadon an ca. 100 Süchtige. Bis dahin war das Substitutionsmittel nur über Hausärzte erhältlich. Ein Jahr später wurde die Abgabe in die dann breiter aufgestellte Medizinisch-soziale Hilfsstelle überführt.
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1993

Schliessung Schellenacker

Am 2. November wurde der Schellenacker (St.Gallens grosse offene Drogenszene) geräumt. Die Szene verschob sich daraufhin an weniger sichtbare Orte

1993

Start Heroin-Abgabe

1994 begann man mit ersten Versuchen der ärztlich kontrollierten Heroinabgabe in der Schweiz.

1994

Start Heroin-Abgabe

Am 15. September startete die Heroinabgabe erstmals in St.Gallen.
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1995

Erste messbare Erfolge

1997 bekräftigte das Zürcher Institut für Suchtforschung in einer Studie, dass sich Gesundheitszustand und Wohnsituation der Klienten verbessert haben und die Pilotversuche weitergeführt werden sollten. Sogar ein Rückgang der Straftaten sei feststellbar gewesen.

1997

Verschärfung abgelehnt

Am 28. September lehnte die Stimmbevölkerung die Volksinitiative «Jugend ohne Drogen» mit 70 Prozent ab, die eine harte Linie im Umgang mit Drogen forderte.

1997

Legalisierung abgelehnt

Am 29. November lehnte es sogar mit 74 Prozent auch die «DroLeg»-Initiative ab, welche Drogen legalisieren wollte.

1998

2x Ja zu Heroin-Abgabe

1999 sagte sowohl das Parlament wie auch die Stimmbevölkerung mit 54 Prozent Ja zu einem dringlichen Bundesbeschluss, der die Weiterführung der heroingestützten Behandlung ermöglichte.

1999

Revidiertes BetmG

2008 hiess die Bevölkerung dann auch mit 68 Prozent das revidierte Betäubungsmittelgesetz gut. Seither ist die Heroinabgabe gesetzlich verankert.

2008
 

Gemeinschaft

«Alle hier drin sind herzensgute Menschen», legt Rosi ihre Hand ins Feuer. Ich sitze im Katharinenhof, einem selbsternannten «Treff für Randständige», der bei meinem ersten Besuch noch von der Stiftung GHG (Gemeinnützige Hilfsgesellschaft St.Gallen) betrieben wird…

 
 

Rosi heisst mit vollem Namen Rosmarie und ist seit ein paar Jahren die Chefin hier. «Auf meinem Arbeitsvertrag steht eigentlich Kellnerin, aber das hat wenig mit dem zu tun, was ich hier den ganzen Tag mache.»

Wenn’s hart auf hart kommt, weiss ich, dass ich mich auf viele hier drin verlassen kann.

Es ist kein ganz normaler Tag – der Kathi-Treff steht kurz vor seiner Schliessung.

Ich sitze noch keine 15 Minuten im Lokal, da wird Rosis Aussage bereits ein erstes Mal auf die Probe gestellt. Zwei Frauen beginnen eine Schlägerei. Noch bevor ich verstehe, was genau passiert, steht Rosi schon zwischen den beiden und ruft die paar Leute zu Hilfe, die noch im Lokal sind. Sofort werden die beiden getrennt und separat rausgebracht. Draussen geht das Ganze wieder von vorne los. Wieder geht Rosi mit vollem Körpereinsatz dazwischen.

«So, wo waren wir?», setzt sie sich wieder zurück zu mir an den Tisch. «Du musst verstehen», nimmt sie die beiden in Schutz, «niemand weiss so recht wie es hier weiter geht. Die Stimmung ist dementsprechend angespannt.»

Rosi kennt hier alle mit Namen. Und alle kennen sie. Auf der Theke stehen mehrere Blumensträusse und Kärtchen. «Wir werden dich vermissen», höre ich an diesem Tag mehr als einmal.

Ich sitze etwas abseits und beobachte die Szene. Ein älterer Herr setzt sich neben mich, zermahlt in aller Seelenruhe ein Dormicum und snifft es aus einem Fetzen Papier, der rumliegt. Rosi schaut ihn böse an. Er ruft: «Na dann gib mir doch Hausverbot! Jetzt kommt’s auch nicht mehr drauf an.» Sie entgegnet: «Mach’s doch wenigstens so, dass ich es nicht sehe.»

Es ist eine spannende Zeit, den Katharinenhof zu besuchen. Es ist der 31. März und der allerletzte Tag im «alten Kathi». Die Hälfte des Raumes ist bereits mit Maschinen und Baustellenutensilien zugestellt. Die Stiftung Suchthilfe übernimmt das Lokal ab Juni 2014 und bringt hier neu auch ihre Spritzenabgabe Blauer Engel unter.

Zwei Konzepte prallen aufeinander.
 

Vor dem Umbau.

 
 

Nach dem Umbau durch die Stiftung Suchthilfe

 

Bis anhin war eine Person alleine für den Betrieb zuständig – wie erwähnt als Kellnerin angestellt. Neu sollen rund um die Uhr vier Sozialarbeiter für den Betrieb anwesend sein. Rosmarie wird nicht mehr angestellt. Ihr fehlt die entsprechende Ausbildung.

Es ist 14 Uhr und es wird konkret: Das letzte Mal putzen, das letzte Mal aufstuhlen, die letzten Abfallsäcke raustragen, langsam abschliessen. Auch innerlich.

Einige Stammgäste, Rosi und ich verhocken noch einen Moment. Man gönnt sich ein Feierabendbier und schwelgt in Erinnerungen. Ich spüre: Hier sitzen nicht eine Kellnerin und ihre Kunden. Hier sitzen langjährige Freunde.

Freundschaft

Das Thema Freundschaft ist ein schwieriges in einer Welt, in der Lügen und «Linken» überlebenswichtige Skills sind. Untereinander kennt man sich auf der Gasse. Kontakte nach aussen zu pflegen, fällt vielen schwer. «Süchtige werden stigmatisiert und fühlen sich stigmatisiert», formuliert es Edwin Berchtold von der Luzerner Gassenarbeit sehr treffend.

Dass das Bedürfnis nach Freundschaft und sozialen Kontakten gross ist, spürt auch Sara Sulser von der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit. «Oft kommen Leute zu uns, nicht weil sie etwas bestimmtes brauchen, sondern weil sie einfach einen Kaffee trinken und mit jemandem reden wollen. Das ist auch unsere Aufgabe.» Doch wie weit geht diese Aufgabe?

Familie

Sucht ist eine Krankheit, die vererbbar sein kann. Studien zeigen, dass das Risiko, süchtig zu werden bei Kindern von Süchtigen 30 Prozent höher liegt. Dazu kommt, dass alle, die ich auf der Gasse getroffen habe, einen schweren Rucksack an seelischen Belastungen mit sich tragen.

Oft genug dachte ich mir: «Kein Wunder – unter diesen Umständen wäre ich wohl auch süchtig geworden»

«Mein Kind ist mir in den Händen weggestorben». «Mein Vater hat mich verprügelt». «Meine Mutter war eine Säuferin»… Diese Liste liesse sich endlos weiterführen.

Betäubungsmittel sind (wie der Name schon sagt) gut im Betäuben von akutem Schmerz. Langfristig bringt es aber oft nur noch mehr Probleme mit sich.

Für Peter Roth, Zivilpolizist, ist das der Ort, wo die Prävention einsetzen sollte.

Ein besonders trauriges Beispiel

Was es bedeuten kann, wenn Süchtige ein Kind bekommen und wie die Behörden heute damit umgehen, habe ich überraschend nah miterlebt.

«Hast du morgen Zeit?», fragt mich Thomas Feurer, selbstständiger Gassenarbeiter. «Zwei Klienten von mir wurden letzte Woche von der Polizei aus der Wohnung geholt. Darin lebten sie mit ihrem zwei Monate alten Säugling. Jetzt wurden sie in den stationären Entzug geschickt. Ich soll mich für sie um die Wohnung kümmern.»

Wir wussten nicht, ob sich allenfalls bereits jemand in der Wohnung eingenistet hatte. Das Haus ist bekannt in der Szene – es leben noch andere Junkies dort.

Die Wohnung war unangetastet als wir ankamen. Die Tür stand noch offen. Die Polizei hatte sie eingetreten. Was wir dahinter vorfanden, zeigt, was eine Sucht selbst mit frisch gewordenen Eltern macht.

Das zwei Monate alte Baby der beiden, verbrachte den ersten Monat seines Lebens im Spital. Die Mutter hatte während der Schwangerschaft weiterhin konsumiert und so musste das Kind sofort in einen Entzug. Einen Monat lebte es danach bei den Eltern.

Nach der Räumung hat die KESB (Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde) hat das Baby fremdplatziert. Die Eltern werden die Obhut über das Kind wohl nie mehr erhalten. Sie werden aber ein Besuchsrecht haben. Gemäss Jahresbericht 2013 des Stadtrates gab es letztes Jahr neun vergleichbare Fälle. Das Kind wurde «fürsorglich untergebracht» – eine Massnahme die im selben Zeitraum in der Stadt St.Gallen 42 Mal angewandt wurde.

Arbeit

Den meisten Menschen auf der Gasse gelingt es nicht (mehr), einer normalen Arbeit nachzugehen. Die Arbeit wäre aber ein wichtiges Standbein, um sich ein soziales Umfeld ausserhalb der Gasse aufzubauen. Eine Arbeit gäbe einem eine feste Tagesstruktur, einen festen Rhythmus. Ohne diese Leitplanken wird der Sucht oft noch mehr Zeit gewidmet.

Wer 24 Stunden pro Tag Zeit hat zum Nachdenken, den fressen irgendwann die Sorgen auf – Rauschmittel schaffen da Abhilfe.

Es gibt wenig zuverlässige Daten darüber, wie die Leute auf der Gasse ihr Einkommen bestreiten. Die Stiftung Suchthilfe erfasst seit längerem all jene, die in einer Substitutionsbehandlung sind. Es ist anzunehmen, dass darin die Gruppe der Verdienenden etwas überrepräsentiert ist im Vergleich zu allen Menschen auf der Gasse, da Substitution die Leute stabilisiert und betreut und ihnen so das Arbeiten ermöglicht. Einen Anhaltspunkt liefern die Daten trotzdem:

Einkommensverhältnisse in der Methadonbehandlung

Man kann also sagen, dass die meisten Menschen auf der Gasse vom Staat leben. Dies weil effektiv viele nicht mehr arbeitsfähig sind, was auch die grosse Gruppe von IV-Bezüger erklärt.

Die Chancen, dass Süchtige und Randständige wieder den Sprung in die Arbeitswelt schaffen, ist klein, erklärt der Leiter des städtischen Sozialamtes, Patrik Müller. Doch dies sei gar nicht immer das Ziel.

Patrik Müller [2min 56s]
«Warum ist es so schwierig, die Menschen auf der Gasse zurück ins Arbeitsleben zu integrieren?»

Psychische Krankheiten

Eine Frage, die mir niemand abschliessend beantworten konnte ist jene nach dem Huhn und dem Ei. Viele Süchtige haben nachweislich eine psychische Krankheit: Depressionen, Schizophrenie, Borderline, Schlafstörungen, um nur einige zu nennen.

Jack Walker, Sozialarbeiter, geht so weit, zu sagen: «Ohne psychosoziale Beeinträchtigung ist niemand längerfristig suchtkrank.»

Kamen diese Krankheiten mit der Sucht oder war die Sucht die Folge der Krankheit?

«Es gibt Leute, die waren schon Arschlöcher als sie auf die Gasse kamen und es gibt jene, die zum Arschloch wurden. So ist es wohl auch bei den psychischen Krankheiten», sagt man auf der Gasse.

Beatrice Weiler ist Pflegerin in der MSH1 und hat in ihrem engsten familiären Umfeld ebenfalls einen süchtigen und psychisch kranken Menschen, der freiwillig obdachlos ist.

Wohnen

«Obdachlosigkeit ist kein Thema in St.Gallen», gibt sich Nino Cozzio selbstsicher. «Wir haben Institutionen wie die Notschlafstelle oder eine Wohngemeinschaft für längere Aufenthalte, bis die Leute eine eigene Wohnung gefunden haben.» Das Sozialamt bezahlt seinen Bezügern einen gesonderten Betrag extra für die Wohnung. Im Prinzip hat Stadtrat Cozzio also Recht. Doch ganz so einfach ist es doch nicht.

 

Eine Nacht in der Notschlafstelle kostet 70.-

Das ist so weil die Kosten für die Übernachtung korrekt abgerechnet werden müssen. Wer in der UFO schlafen möchte, muss sich identifizieren. Dann übernimmt in der Regel das Sozialamt die Kosten.

 

Mir sind fast zehn Leute bekannt, die momentan ohne festes Dach über dem Kopf sind. Wenige haben sich freiwillig für dieses Leben entschieden. Sie möchten die Anlaufstellen, bei denen man ihnen helfen würde, nicht nutzen oder wurden von diesen ausgeschlossen.

Weitaus häufiger ist, dass Leute temporär ohne festen Wohnsitz sind. Manchmal monatelang.

Viele Süchtige haben grosse Schwierigkeiten, eine Wohnung länger zu halten. Sie finden keine Kapazitäten, sich genügend um die Wohnung zu kümmern und lassen sie verwahrlosen. Das Sozialamt überweist dem Empfänger das Geld für die Miete. Nicht immer landet dieses dann auch beim Vermieter.

Es kommt auch vor, dass Menschen ins Gefängnis müssen oder ambulant in eine Psychiatrie oder einen Entzug eingeliefert werden und so die Wohnung aufgeben müssen, unter Umständen mit allem Hab und Gut darin. Eine neue Wohnung zu finden und vor allem zu bekommen, ist für viele schwierig.

Für Fälle wie diese hat die Stiftung Suchthilfe die Wohngemeinschaft Arche ins Leben gerufen, die Heilsarmee bietet drei Schlafplätze (für zehn Franken pro Nacht) an und es gibt in der Gallusstrasse die Herberge zur Heimat. Alle Angebote versuchen, den Leuten unter die Arme zu greifen, sie in ihrem Alltag zu unterstützen, zu stabilisieren und in die Selbständigkeit zurück zu entlassen.

Finanzen

Wenn es wieder einmal zu viel Monat am Ende des Geldes hat (die Sozialhilfe kommt am 25. des Monats, die IV jeweils am Anfang), muss man sich zu helfen wissen.

Auf der Gasse haben sich diverse Jobs etabliert, mit denen sich ein wenig Geld verdienen lässt.

Andi, seit 26 Jahren auf der Gasse unterwegs, spricht offen.

Dealen – Der lukrativste aber gleichzeitig risikoreichste Weg, sich seinen Eigenkonsum zu finanzieren. Stoff in möglichst grossen Mengen kaufen, strecken, in kleine Portionen unterteilen und teurer verkaufen.

Vermitteln – Dealer tun sich gerne Helfer zu. Die Vermittler laufen rum und suchen nach Kunden. Willigt jemand ein, überbringt man ihn dem Dealer. Das kann auch über mehr als eine Station so gehen und minimiert das Risiko für alle Beteiligten.

Bunkern – Drogen müssen immer wieder mal zwischengelagert werden. Je unauffälliger die Person, desto besser ist sie als Bunker geeignet. Die Bezahlung erfolgt auch hier eher in Briefli als in Bargeld.

Bierhandel – Viele Randständige haben Hausverbot in Supermärkten oder gehen aus anderen Gründen (Bequemlichkeit oder Scham) nicht gern selbst. So gibt es an jedem Ort ein, zwei Leute, die einen Rucksack voll Dosenbier dabei haben und sie für zwei Franken verkaufen. Hat der Bierdealer selbst auch Hausverbot, lässt er einen «Lieferanten» für ihn einkaufen. Der Lohn: Ein Bier.

Aufräumen – Die Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit vergibt einigen Personen pro Woche einen Migros-Gutschein über zehn Franken. Jemand ist für den Kantipark zuständig und schaut, dass kein Abfall liegen bleibt und die Aludosen entsorgt werden. Zwei andere Personen klappern die häufigsten Konsumorte ab und entsorgen Spritzen und anderes Material.

Betteln – Eigentlich verboten, aber trotzdem praktiziert. Der Spruch, dass sie Geld für die Notschlafstelle brauchen, ist übrigens leider eine Lüge. Die 70 Franken, welche die Notschlafstelle pro Nacht kostet, werden vom Sozialamt übernommen.

Filterler – Zu Zeiten der offenen Drogenszene gab es noch die Filterler. Sie sammelten gebrauchte Spritzen und Filter um daraus noch die letzten Tropfen Stoff herauszuholen. Das gab erstens wenig her und war zweitens unvorstellbar unhygienisch. Sie waren das schwächste Glied in der Hierarchie auf der Gasse.

 

«Hoi Dani», ich schnapp mir einen Stuhl und setz mich in die Runde. Man begrüsst mich. Nicht überschwänglich, aber freundlich: «Wie geht’s?» «Ganz gut und euch?» «Es muss. Danke, danke.»

 

Hie und da ernte ich einen skeptischen Blick, wieder ein anderer fragt mit ironischem Unterton: «Was machst denn du hier? Du bist ja ein ganz abgefuckter Junkie, dich hab ich hier noch nie gesehen.» Das ist aber auch schon alles.

«Ich setz mich hier einfach mal dazu. Mal ein wenig die Leute kennenlernen», versuche ich mich zu rechtfertigen.

Derselbe Fragensteller setzt plötzlich eine ganz neue Mine auf: «Echt? Das find ich geil, das macht sonst niemand einfach so.» Das war’s mit den kritischen Fragen. Man stellt hier allgemein nicht zu viele Fragen. Schon gar keine persönlichen.

Dani hab ich schon ein paar Mal getroffen. Er beginnt eifrig auf mich einzureden: «Es ist imfall echt schwer, normale Leute kennenzulernen. Die wollen alle nichts mit uns zu tun haben. Da sassen gestern so drei Leute auf der Bank. Ich hab noch nett Grüezi gesagt, aber zurück kam nichts. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätt ich denen grad gesagt, sie sollen sich zum Teufel scheren statt uns hier so anzugaffen wie die Affen im Zoo.»

Süchtige als Belastung?

Wie der Name schon sagt, ist der Kantipark direkt neben der Kantonsschule gelegen. «Wenn ich jetzt Stadtplaner wär und eine Stadt planen könnte, würd ich das sicher nicht so nebeneinanderlegen, aber jetzt ist es halt so. Wo sollen sie denn sonst hin?», antwortete mir Jack Walker von der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit auf meine Frage, ob denn das nicht ein gewisses Risiko sei, die Süchtigen und die Kantischüler im selben Park unterzubringen. «Einerseits schadet es nicht, auch mit Menschen zu tun haben, die nicht so auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Andererseits weiss man leider auch, dass die Verfügbarkeit von Drogen das Risiko erhöht, dass Jugendliche diese konsumieren.»

Im Konzept der Gassenküche steht als Ziel unter anderem «Entlastung des öffentlichen Raumes». Der Rückschluss ist eindeutig: Randständige «belasten» offenbar den öffentlichen Raum.

Sara Sulser von der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit formuliert es so: «Wenn eine Gruppe einen Ort exklusiv für sich in Anspruch nimmt, sodass andere diesen Ort nicht mehr nutzen können, dann ist das ein Problem.» Deshalb dürften die Süchtigen beispielsweise im Kantipark nicht auf die Bänkli sitzen sondern werden von der Polizei regelmässig auf die Wiese bzw. die 25 grünen Stühle verwiesen. «Dass die Leute wieder ungestört den Weg entlang gehen können ohne jemandem ausweichen zu müssen.»

Es fühlt sich reichlich seltsam an, mit einem Süchtigen auf dem Bänkli zu sitzen und zu wissen, dass ihn die Polizei jederzeit wegschicken könnte und mich nicht.

Jürg Niggli, Geschäftsleiter der Stiftung Suchthilfe steht in regelmässigem Kontakt zur Kantonsschule.

Jürg Niggli [1min 28s]
«Müssten Jugendliche von Süchtigen ferngehalten werden?»

Aus den Augen aus dem Sinn?

Busbahnhof, Calatrava – es sind Orte wo man sich begegnet. Man sitzt da – die einen warten auf den Bus, die anderen auf nichts Bestimmtes. Immer wieder flammt die Diskussion auf: Was stört? Man kann sich aber auch fragen, wer stört wen? Wenn ich mit den Menschen auf der Gasse rede, höre ich nämlich auch sehr oft: «Die sollen uns doch in Ruhe lassen. Wir hätten auch gerne einen Ort wo wir hingehen könnten, aber das haben wir ja nicht.»

Über Konsumorte und die damit verbundenen Schwierigkeiten wurde in dieser Reportage bereits berichtet. Im Sommer macht die Gassenküche jeweils zwei Monate Sommerpause. Doch auch im Winter bietet diese kaum mehr als 30 Plätze. Der Kathi-Treff wurde soeben redimensioniert und bietet neu auch nur noch 40 Plätze. Bei schätzungsweise 300 Süchtigen im Einzugsgebiet St.Gallen kann sich jede und jeder selber ausrechnen, dass es eng werden dürfte.

 

Pro Tag konsumieren nur ca. 6-7 Personen in der bedienten öffentlichen Toilette beim Waaghaus.

Dies ist was davon übrig bleibt.

 

Es ist schwer vorauszusehen, wohin sich die Menschen auf der Gasse dann bewegen werden. In private Räume? Viele Wohnungen sind nicht sehr wohnlich – Süchtige finden oft keine Zeit oder Energie, sich anständig um ihre Wohnung zu kümmern. Und auch der Beschaffungsstress treibt sie immer wieder raus.

«St.Gallen bräuchte unbedingt ein Fixerstübli» höre ich von beiden Seiten – von Süchtigen und Sozialarbeitern

Ein Fixerstübli ist der Gassenbegriff für einen Ort, an dem Konsumieren und allenfalls auch Dealen im kleinen Stil erlaubt ist. Viele Städte wie Schaffhausen, Zürich, Bern, Basel oder Luzern haben eines. Es nennt sich «Kontakt und Anlaufstelle» oder Drogenanlaufstelle und ist der Versuch, den Konsum in einigermassen kontrollierbare Bahnen zu lenken.

St.Gallen startete bereits 1990 einen ersten Versuch mit einem ähnlichen Modell, wo konsumieren und dealen an einem Ort toleriert wurde. Doch so einen Ort zu führen, erfordert viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Risiken gibt es immer.

Heute sei das Bedürfnis nicht mehr genug gross, um einen solchen Raum in St.Gallen zur Verfügung zu stellen, sagt der Geschäftsleiter der Stiftung Suchthilfe, Jürg Niggli.

Jürg Niggli [0:48s]
«Warum hat St.Gallen kein Fixerstübli?»

Andi (41-jährig und seit 26 Jahren auf der Gasse) war damals schon beim Bienenüsli dabei. Für ihn ist klar, dass man seit damals viel dazu gelernt hat. Er findet, es wäre Zeit, auch in St.Gallen wieder einen Konsumort einzurichten. Die Stadt könne viel gewinnen.

Die Deals wiederum finden fast überall zwischen Kathi-Treff und Gassenküche statt. Offiziell ist es in diesen Lokalen verboten zu dealen und so ist man auch täglich im Kantipark oder am Marktplatz mit Deals konfrontiert. Als Beobachter kann man gar den Eindruck gewinnen, dies werde von offizieller Seite toleriert. Doch das Betäubungsmittelgesetz ist eindeutig und die Polizei hat einen klaren Auftrag.

Repression

«Letzte Woche sind hier im Kantipark vier Kastenwägen und 18 Polizisten aufgefahren und haben alle einzeln eingeladen und gefilzt.», erzählt mir Manuel. «Natürlich hatten viele irgendwas dabei, also verteilten sie reihenweise Bussen. Bezahlen kann hier eh keiner – das wenige Geld das wir haben kommt vom Staat. Wer dann die Rechnungen nicht zahlt, muss sie irgendwann im Gefängnis absitzen. Das kostet auch wieder genug.»

Für Peter Roth, Zivilpolizist und nicht als Hardliner bekannt, ist klar: Ohne Repression geht es nicht.

Wer sich auf der Gasse umhört, merkt: Nicht alle Polizisten ticken wie Roth. Man darf nicht alle Räubergeschichten glauben, die einem über die Polizei erzählt werden. Eine davon habe ich aber selbst miterlebt. Ich sitze in der Calatravahalle als ich jemanden aus dem Kathi-Treff kommen sehe. Es regnet heftig und der Mann, den ich aus der MSH2 kenne, beschleunigt seinen Schritt. Plötzlich halten ihn vier Polizisten fest und durchsuchen ihn. Ich höre ihn sagen: «Hier ja, ich habe 20mg Methadon gekauft, weil ich’s nicht mehr rechtzeitig in die Abgabe geschafft habe.» Er streckt ihnen die Tablette entgegen, wird fertig durchsucht und mitgenommen. Die Strafe, wie ich später erfahre: 450 Franken Busse und einen Eintrag wegen Verstoss gegen das BetmG. Weil er den Betrag nicht rechtzeitig bezahlte, kamen nochmal 150 Franken dazu.

Wegweisungen

Was nichts kostet, aber garantiert jedem auf der Gasse schon einmal passiert ist: Er wurde weggewiesen. Seit 2006 gibt es in St.Gallen den Wegweisungsartikel, der es der Polizei erlaubt, Personen von einem Ort oder aus der Stadt wegzuschicken.

Wegweisungen in der Stadt St.Gallen

Bis zu drei Mal täglich – die Polizei macht in St.Gallen vom Wegweisungsartikel regen Gebrauch. Seit dem Spitzenjahr 2011 ist die Anzahl Wegweisungen wieder rückläufig. Die Polizei konzentriere sich wieder vermehrt auf andere Probleme.

Peter Roth ist froh um den Artikel:

Die häufigsten Wegweisungsgründe sind Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da für die Wegweisung bereits ein «begründeter Verdacht» ausreicht, der Artikel sehr häufig angewendet wird und dabei die Bewegungsfreiheit (Grundrecht) einschränkt, steht er immer wieder in der Kritik.

 
 

Ich habe sie immer wieder erlebt – die überraschenden Momente. Ich sitze im Kantipark. Ein jüngerer Typ kommt auf mich zu.

 

Er wirkt gepflegt, das Haar trägt er modern – unten kurz, oben lang, elegant zur Seite frisiert. Auch seine Kleidung sieht meiner nicht unähnlich. Sehr freundlich sagt er zu mir «Hey ich hab dich gestern beim Filmen gesehen. Ich heisse Manuel. Wir wohnen imfall gleich nebeneinander. Im Linsebühl, gell?»

Ich erwische mich selbst, wie ich denke: «Wow, der sieht ja normal aus. Was macht der denn hier?»

Sofort kommen wir ins Gespräch. Manuel ist 38 Jahre alt, gelernter Bodenleger. Seit ihm vor ein paar Jahren wegen Drogengeschichten der Führerausweis entzogen wurde, hat er zu kämpfen. «Ach weisst du, damals in den 90ern ist die ganze Technobewegung hier aufgekommen. Plötzlich waren Drogen im Ausgang omnipräsent. Wir waren uns alle überhaupt nicht bewusst, in was wir da reinschlittern. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer.»

Ich erfahre, dass Manuel inzwischen in Behandlung ist. Dank des Methadons kann er ein ziemlich geregeltes Leben führen. Er hat eine Einzimmerwohnung. Ab und zu kommt er über ein Temporärbüro an irgendeinen kleinen Job auf einer Baustelle. «Was mir fehlt, ist eine klare Tagesstruktur. Eine Festanstellung will mir ohne Scheck aber niemand geben.»

Am liebsten würde er eine neue Ausbildung als Sozialarbeiter beginnen, aber wie finanzieren? Und so steckt er fest in dieser Lage, in der wir alle früher oder später landen könnten, wie es mir scheint. «Weisst du was ich schade finde?», fragt er mich. «Nein, erzähl!»

«Man wird so schnell verurteilt. Viele Leute gehen auf Distanz, sobald sie erfahren, dass ich Methadon einnehme.»

«Verurteilt hat man jemanden sehr schnell. Doch ist man bereit, sich einmal die Lebensgeschichte der Menschen hier anzuhören, versteht man vieles besser.» Manuel kommt ursprünglich aus Schaffhausen. Hier in St.Gallen ist er irgendwie in diese Kreise hineingerutscht. Ich spüre wie er es geniesst, mit jemandem ausserhalb dieser Szene zu sprechen. Wir verlassen langsam den Kantipark und gehen noch eins trinken.

Wir reden über Drogen, Abstürze, Konsum und darüber, was von der Gesellschaft akzeptiert wird und was nicht. «In der ganzen Partyszene – was da alles konsumiert wird – das glaubst du gar nicht. Geh mal um fünf Uhr morgens ins Goliath und schau dir an, was da so über die Theke geht. Dagegen ist der Kantipark heilig. Hier wissen die Leute wenigstens, dass sie ein Suchtproblem haben.»

Er erzählt weiter. Er kenne eine ältere Dame, die werde immer ganz zittrig gegen Abend. Die sei kaum auszuhalten, ganz nervös. «Dann nimmt sie ihr Temesta und geht schlafen. Aber hey! Diese Benzodiazepine sind etwas vom härtesten, was es gibt. Ein Methadon- oder Heroinentzug ist ein Spaziergang im Vergleich zu einem Benzo-Entzug, glaub mir! Ich weiss wovon ich spreche.» Und doch bekämen alte Leute reihenweise Benzodiazepine als Schlafmedikament verschrieben.

«Dabei ist dieses Zeug echt nicht zu unterschätzen.» Das höre ich auch von anderen immer wieder. Es gibt so eine Art «alte Garde» von Fixern. Sie bezeichnen sich auch als Fixer und grenzen sich bewusst von den, wie sie es nennen, «Junkies» ab, indem sie nur Heroin konsumieren. «Diese Jungen, die konsumieren all dieses neue chemische Zeugs. Oder massenweise Benzos – die laufen dann durch die Gegend wie Zombies und ihr Erinnerungsvermögen ist völlig futsch. Dann meinen sie wieder jemand habe ihren Stoff geklaut, dabei haben sie alles selber genommen.»

Bei Manus Bruder haben sie ADHS diagnostiziert. Schon sehr früh verschrieben ihm die Ärzte raue Mengen Ritalin. «Ritalin ist ein amphetamin-ähnlicher Stoff. In Amerika gibt es ADHS-Medikamente, die Amphetamine sind! Weisst du wie süchtig dieses Zeug macht?»

Guter Konsum, schlechter Konsum, frage ich mich – wo verläuft genau die Grenze. Und warum?

Ich erlebe Manuel als äusserst reflektierten, intelligenten jungen Mann. Ich vergesse irgendwie, dass ich ihn ursprünglich ja in meiner Rolle als Journalist getroffen habe. In diesem langen Gespräch ist bereits eine kleine Freundschaft entstanden. Plötzlich erinnert er mich: «So ich muss jetzt los. In einer halben Stunde schliesst die MSH2. Wenn ich mein Methi nicht pünktlich abhole, gibt’s nichts mehr und dann geht das mit den Schmerzen wieder los.»

 

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